06 July 2017

Eine Reise zu Uwe Johnson nach Güstrow

(Rostock, 03.07.2017 - 06.07.2017) Die Ruhe vor dem Sturm in Hamburg nutze ich, um nach Rostock zu fahren und von dort nach Recknitz und Güstrow. Ich folge Frauke Meyer-Gosau und ihrem Buch "Versuch eine Heimat zu finden: Eine Reise zu Uwe Johnson" (C.H. Beck, 2014, S. 35-71).

Recknitz

Eine schmale Landstraße, abzweigend von jener größeren, die von Güstrow aus zum Inselsee und dem Barlach-Haus führt, leitet uns durch hügelige Felder und Wiesen hin zu einer kleinen, um die alte Dorfkirche aus dem 13. Jahrhundert und ihren säuberlich gepflegten Friedhof herum gruppierten Ortschaft mit dem Namen Recknitz.


"Ort am Fluss" hat das in slawischer Zeit geheißen, der Name für ein Fischerdorf. Für uns aber nimmt alles hier seinen Ausgang von einer Erinnerung Uwe Johnsons aus dem Jahr 1979, anlässlich der ihm von seinem Verleger Siegfried Unseld abgenötigten "Frankfurter Vorlesungen". "Ich (war) fast elf Jahre alt", ist dort zu lesen, "als ich meinem Staatsoberhaupt Adolf Hitler zum letzten Mal begegnete in einem mecklenburgischen Dorf. Vertrauensvoll und gerissen blickte der da in eine Gute Stube, als stünden keine Sowjets vor seinem Bunker, als sei der Reichssender Hamburg immer noch in grossdeutschen Händen statt in denen der Angelsachsen. Dann gilt als Kindermund die Frage, ob dieser Wandschmuck auch rechtzeitig abgehängt werde.

Die Antwort lautete: Das hat äe nicht verdient, mein Kint.

Prägende Eindrücke einer Kindheit im Zeichen Hitlers laufen danach vor dem inneren Auge des Erzählers ab: der Drill in der Schule und bei der Hitlerjugend, die Strafen "für ein Kind, das mit der Übungshandgranate bloss auf neun Meter kam", die Allgegenwart "des Führers" in öffentlichen wie privaten Gebäuden, auf Briefmarken und in jedem täglichen Gruß, nicht zuletzt aber die Forderung der überwiegenden Mehrheit der Erwachsenen, die Kinder "sollten an den glauben, den sie ‚den Führer‘ nannten. Aber selbst beim Satze des Pythagoras", fährt Johnson fort, "war das verboten. Den musste man beweisen, und geführt hatte jener mittlerweile bis zum Verlust der Heimatstadt, auf die Flucht und in die unsichere Ankunft in einem fremden Dorf bei Leuten, die nach wie vor mit ihm wohnten und zur Auskunft gaben, das habe er sich verdient.

Ein Kind konnte die Wahrheit wissen: nur vorläufig war auch in diesem Ort ein Ortsbauernführer, ein Bürgermeister noch im Amt und befugt, flüchtende Feldgendarmen anzuhalten und zu beordern mit der Exekution von Staatsfeinden, die ein Bild des Staates von der Wand nehmen. Wenn es dann nach dem ersten Besuch eines sowjetischen Pferdewagens mit Maschinengewehr bloss mehr anwesend ist als hell gebliebener Tapetenfleck, unzulänglich verdeckt durch einen Öldruck, heisst es von Kindern, sie seien viel zu jung, um davon etwas zu verstehen. (…) Unübersehbar für ein Kind waren (Hitlers) Leistungen in einer eher weitläufigen Landschaft:  Fahnenflüchtige aller drei Waffengattungen, zuzüglich der Schutz-Standarte, trotteten nach Westen, zivilen Zeuges begierig, unbehaglich beim Imbiss, ergriffen und angetrieben von einer Eile, mit der man fortläuft von etwas. Die Sachen zur Eroberung der Welt lagen am Wegrand, im Teich, im Wald: Seitengewehre, Munition, Karabiner, Handgranaten; leer blieb der Himmel und von den Geheimwaffen des Ministers für  Volksaufklärung und Propaganda. Das Dorf war bedrängt von zivilen Flüchtlingen aus der östlichen Richtung, widerliche, unbequeme Mahnung waren sie an die so geläufig im Gebet bezeugte Tugend der Nächstenliebe, eine Gefahr für den Wohnraum, selbst für die Gute Stube, für die eigenen Vorräte an Mitteln zum Leben (was im Mecklenburgischen, als ‚Läven‘, ein Wort ist auch für das Essen)."

Dies also war Recknitz nach der Ankunft der Familie Johnson im April 1945, gesehen aus den Augen eines Kindes, dem der 45-jährige Schriftsteller mehr als dreißig Jahre später seinen vom Erwachsenenwissen gelenkten Blick mitgibt - als der Junge die verstörende Frage nach dem Bild des Führers in der Guten Stube des Onkels stellte, war sein Vater bereits in einem sowjetischen Lager verschwunden. Und das Kind sah, staunend und nicht ohne Grausen, wer alles da über diese Straße von Osten dahergezogen kam: zivile Flüchtlinge mit Wagen und Koffern, aber eben auch solche des Heeres und der SS, die ihre Waffen abwarfen und die Uniformen nur zu gern eingetauscht hätten. Es sah auch, wie der Typhus, eingeschleppt "mit den Trecks aus dem Osten", unter der Bevölkerung wütete: "So werden die Toten auf Erntewagen ins Dorf gebracht, wie Fracht gestapelt, wie Abfall verscharrt. Ein elfjähriges Kind sieht von der Kirchhofmauer aus heimlich zu, da rutscht das Bein einer weiblichen Leiche für einen Augenblick aus der Zeltbahn, bevor der Körper aufschlägt und das schmierige Tuch zurückgezogen wird aus dem Massengrabloch." Schließlich entging dem orientierungssüchtigen Blick des Kindes auch nicht, wie sich die Sieger betrugen, der erwachsene Uwe Johnson fixiert auch dies: "In dieser Erinnerung rennt immer noch eine schreiende Frau entlang an der endlos erscheindenden Mauer eines Dorffriedhofs in Mecklenburg.


Was weiss ein Elfjähriger von Vergewaltigung! Wenn die Erwachsenen seine Erkundigungen abspeisen mit Hinweisen auf sein Alter, wird er sich zurechtlegen müssen, dass auch die Befreier anfangen mit Gewalt." Auch dies eine Beobachtung, die ihm für sein späteres Leben  nicht verloren gehen wird.

Was Johnson für das Erinnern eigener Erfahrung aber auch bleiben und viel später dann in seine Literatur eingehen wird: "Das Verziehen von Rüben. Das Binden von Korn. Das Aufnehmen von Kartoffeln, auf den Knien wie hinter der Wrackmaschine. Umgang mit Pferden. Das Ausmisten von Kuhställen, Schweinekoben, Hühnerstiegen. Die Entwicklung einer Kaninchenzucht. Das Mähen, das Wenden, das Aufstaken von Heu. Das Füttern eines Dreschautomaten. Grundzüge einer Schmiedelehre: das Schmieden eines Hufnagels, Aufziehen der glühenden Reifen auf die Radkränze. (…) Hätte es damals eine Wahl gegeben, ich riete mir von heute her zur Schmiedelehre", setzt er noch hinzu. Da sind drei Bände der "Jahrestage" schon geschrieben, am vierten hat er sich heillos festgefahren. Sein Leben in Sheerness-on-Sea ist reduziert aufs Existieren und Zu-Ende-Bringen.

Für das Kind aber hatte mit dem Kriegsende "das Jahr der letzten Spiele" begonnen, und unverlierbar zwischen "Plumpsack", Schlittschuhfahren und Rodeln bleibt für die späteren Jahre ein Moment, der auch Uwe Johnsons Sehnsuchts- und Lebens-Element, das Wasser, wieder in dies Bauernkinderleben im Binnenland zurückbringt: "Auf dem Eis über den überschwemmten Wiesen laufen sie um die Wette mit ihren Peekschlitten, und wenn eines einhält für einen Augenblick, sieht es deutlich wie niemals wieder die einzelnen Halme, die in dem gefrorenen Wasser eingeschlossen sind." Dieser Blick durchs Eis ist zugleich ein Sinnbild für Johnsons ganz besondere Art der Erinnerungsarbeit: Noch der Anblick des einzelnen Hälmchens muss aufgehoben, das in der Gefrierkammer des Gedächtnisses Gesicherte erst im Schreiben wieder gelöst werden.

Jetzt, im Sommer fast 70 Jahre danach, liegt der kleine Ort Recknitz sehr still im lauwarmen Nieselregen, die frühere Schmiede des Nazi-Onkels ist nach wie vor das zentrale Gebäude an der Kreuzung am Ortseingang - dem kleinen Friedhof liegt sie schräg gegenüber, jenseits der katzenkopfgepflasterten Dorfstraße, welche die Kirche umrundet. Vor einer zum Anwesen des einstigen Dorfschmieds gehörenden Scheune macht sich ein junger Bauer an seinem Traktor zu schaffen. Ob dies tatsächlich die alte Schmiede sei, fragen wir ihn, denn nichts Schmiede-Ähnliches ist dem einigermaßen schmuck hergerichteten zweistöckigen Ziegelsteinbau mehr anzusehen. "Gemeinde Plaaz" steht da auf einer großen Tafel an der grün gestrichenen Eingangstür, darunter das Zeichen für die Freiwillige Feuerwehr. Der große Schaukasten an der Hauswand mit der Aufschrift "Kultur-Schmiede e. V." ist leer.

Ja, dies sei die frühere Orts-Schmiede, bestätigt der junge Mann freundlich, aber die sei nun seit etlichen Jahren nach der Wende ein Kulturzentrum. Über Uwe Johnson habe da auch einmal etwas stattgefunden, ein Seminar, eine Buch-Präsentation, er weiß es nicht mehr genau. Aber der zweite Stock sei sehr schön ausgebaut, und wenn wir uns für den Arbeitsbereich des Johnson-Verwandten interessierten, könnten wir doch einfach durch die Ritzen in der notdürftig mit Brettern vernagelten Doppeltür spähen, da könnte vielleicht sogar der Amboss noch zu erkennen sein.

Genau so machen wir es, und außer gigantischen Spinnweben, die zwischen der Decke und den auf dem Lehmboden wild durcheinander, übereinander herumstehenden Gegenständen in massiven Bahnen wabern, sind tatsächlich alte Werkzeuge zu erkennen, möglicherweise ist das dort, im rechten hinteren Eck, die Esse. Nicht nur das Wohnhaus, auch die aus dem 18. Jahrhundert stammende Schmiede selbst hätte längst restauriert werden sollen, hatte der junge Mann bei seinem Traktor gesagt, aber im Moment fehle der Gemeinde das Geld. An die Familie des einstigen Schmieds könne er sich selbst nicht mehr erinnern. Raum genug wird für die Flüchtlings-Verwandtschaft hier auf jeden Fall gewesen sein, die bis zum Beginn des neuen Schuljahrs 1946 in diesem Haus lebte - an das lang gestreckte Quergebäude, in dem die Wohnräume lagen, schließt sich hinter dem Arbeitsplatz des Schmieds noch ein ausgedehnter Seitenflügel an. Unter dem schön gedeckten Dach mag sich der Heuboden befunden haben, darunter die Stallungen, in denen der Junge Uwe, inzwischen zwölfjährig, sich nützlich zu machen hatte; von seinem Onkel wurde er überdies als Arbeitskraft im Schmiede-Betrieb angelernt. "Es ist nunmehr bloss vernünftig", heißt es zu diesem Lebensabschnitt in den "Begleitumständen", "wenn er einstimmt in das einhellige Urteil, er sei auch vom Alter her kräftig genug, zu arbeiten für sein Bett und sein Brot."

Die Lebensepisode in diesem Dorf, einer slawischen Gründung des 13. Jahrhundert, bei den väterlichen Verwandten, die den Nationalsozialisten so ausdrücklich auch in Partei-Funktionen zugetan waren, sie dauerte nur etwa ein Jahr, und sie bedeutete die Rückkehr in eine bäuerliche Existenz, der sowohl der Vater wie die Mutter zu entkommen versucht hatten. Dem Land Mecklenburg, schreibt Uwe Johnson 1977 in einem autobiografischen Text zu seiner Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, sei er "verbunden nicht nur durch einen Vater, einen Absolventen des Landwirtschaftlichen Seminars  Neukloster und Verwalter herrschaftlicher Güter, sondern auch durch eigene ausgiebige Beschäftigung mit dem Boden dieses Landes, (…), des Umgangs mit den Tieren auf diesem Boden nicht zu vergessen. In Mecklenburg habe ich gelernt, dass man als Kind schlicht vermietet werden kann in drei Wochen Arbeit auf fremdem Acker gegen einen Doppelzentner Weizen" - eine Erfahrung, die seine Heldin Gesine Cresspahl in den "Jahrestagen" zu wiederholen haben wird - "dass Existenz umgesetzt werden kann in jeweils gültige Währung, und ich bin dankbar für die frühe Lehre." Dass das Kind dennoch in diesem Rahmen nicht bleiben und sein übriges Leben verbringen sollte, ging zurück auf einen Beschluss seiner Eltern, den umzusetzen sich Erna Johnson verpflichtet fühlte, nun allein mit zwei Kindern und als Flüchtling in der Schmiede- und Bauernfamilie weniger aus familiärer Zusammengehörigkeit als in Wertschätzung ihrer Arbeitskraft geduldet. Ihr Mann blieb verschwunden. Überlebende Mithäftlinge bestätigten später, dass er in einem Lager in der Ukraine gestorben war.

"In jeder ersten Prüfung durch die Einheimischen", schreibt Uwe Johnson in seinem Lebensbericht, "galt der Rest der Familie als unwiderruflich überführt: wir hatten keine feste Statt in Mecklenburg, und wir hatten zu wenig mitgebracht. ‚Flüchtling‘ also, nur dass diese Bezeichnung strengstens verbeten war durch die Behörden, ‚Umsiedler‘ war statt dessen erwünscht. Siedeln hätte meine Mutter können, schon damit ich einen anderen Anfang fortsetzte als den eines Lehrlings in der Dorfschmiede; sie ging in die Stadt Güstrow, da stand das ehemalige Gymnasium, das mein Vater für mich gewünscht hatte, die John-Brinckman-Oberschule."

Dort beginnt die Zeit, die Johnsons Literatur in den kommenden Jahrzehnten mit konkretem Material versorgen wird: mit den charakteristischen Fluss- und Seen-Landschaften und den dieser Gegend zugehörigen Charakteren. Schon der erste Roman "Ingrid Babendererde" erzählte davon, auch die 1959 veröffentlichten "Mutmassungen über Jakob" finden ihren Ursprungsort in dieser Region; die "Jahrestage" binden sie endlich in ihre Jahrhundert-Erzählung ein. Alles Vorige, dem Umzug nach Güstrow im Jahr 1946 als Erfahrung und lebenslang haftender Anblick Vorausgehende aber, ist ihnen allen als ein Sehnsuchts-Leitfaden, vor allem aber als eine in den frühesten Lebensphasen bereits angelegte Wahrnehmungsweise ebenfalls eingeschrieben: Das Leben bis ins erste Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg hat den Stoffen und Bildern Uwe Johnsons insbesondere die innere Richtung mitgegeben. Er rechnete sich das innere Grundmuster seiner am 3. März 1933 in Mecklenburg geborenen Protagonistin Gesine Cresspahl ausdrücklich selbst zu, wenn er sie "an den Verbrechen der Deutschen gegen die Juden noch beteiligt" sieht, "und sei es als Angehörige der Kindgeneration nach der schuldigen, und weil er ihre Ratlosigkeit gegenüber der so genannten ‚jüdischen' Frage begreift, besser als das Verhalten zu vieler ihrer Altersgenossen im westlichen wie im östlichen Staat deutscher Nation. Sie hat durch das Leben im Ausland annehmen müssen, dass die Deutschen noch auf Dekaden hinaus in den Augen der anderen Völker gemessen werden auf ihre Distanz zum versuchten Genozid an den Juden, und der Verfasser hält diese ihre Einsicht für eine, die er unter die Leute zu bringen hat."

In Güstrow und am Inselsee

"Am Ende könnte man mir nachsagen", hält Uwe Johnson 1977 in seinem Bericht an die Deutsche Akademie fest, "ich sei jemand, der hat es mit Flüssen. Es ist wahr, aufgewachsen bin ich an der Peene von Anklam, durch Güstrow fließt die Nebel, auf der Warnow bin ich nach und in Rostock gereist, Leipzig bot mir Pleisse und Elster, Manhattan ist umschlossen von Hudson und East und North, ich gedenke auch eines Flusses Hackensack, und seit drei Jahren bedient mich vor dem Fenster die Themse, wo sie die Nordsee wird. Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elde und der Havel …"

Hier also sind wir angekommen im Herzstück seiner literarischen Landschaft, konkret: in Güstrow, einer übersichtlichen Ansiedlung mit 30000 Einwohnern, die sich seit einigen Jahren offiziell mit dem Beinamen "Barlachstadt" schmückt -


"Johnsonstadt" wäre hier mit gleichem Recht möglich gewesen, doch wäre dem so Geehrten die Symmpathie für eine solche Namens-Kombination nach ihm noch geläufigen Bezeichnungen wie "Stalinstadt" oder "Karl-Marx-Stadt" mutmaßlich doch eher abgegangen.

Die Stadt, gelegen im Binnenland, in einer wasserreichen Endmoränen-Landschaft, geht auf eine Wenden-Gründung im 12. Jahrhundert zurück, deren Burg "Güstrowe" ihr den Namen gab. In Johnsons Roman "Ingrid Babendererde" heißt das literarische Güstrow der realen Gründungsgeschichte entsprechend "Wendisch Burg", in den "Jahrestagen" trägt es dann den Namen "Gneez" und ist eine Kombination aus den realen Ortschaften Grevesmühlen und Güstrow. Hier besucht Gesine Cresspahl, wie ihr Autor, zuerst die von ihm sogenannte "Brückenschule", später das "Gustav-Adolf-Gymnasium", und auch dieser fiktive Name wieder ist der Geschichte Güstrows entliehen: Gustav Adolf war der letzte Abkomme der Güstrower Herzogslinie. Tatsächlich aber hieß das Gymnasium schon zu Johnsons Schülerzeiten "John-Brinckman-Oberschule", ihm gegenüber liegt der Güstrower Dom, auf den auch der Oberstufenschüler von seinem angestammten Fensterplatz im Klassenzimmer der 12 A im obersten Stockwerk schauen konnte -


im Inneren des Doms aber hängt "Der Schwebende", jene Skulptur Ernst Barlachs, deren Antlitz nach demjenigen von Käthe Kollwitz geformt wurde.


Der verfemte Bildhauer und Schriftsteller wiederum wurde, in den "Jahrestagen" von Gesine Cresspahl beschworen, zur künstlerischen Leitfigur des hier mit seiner Arbeit beginnenden Schriftstellers.

1946 war der Zwölfjährige mit seiner Mutter und der Schwester Elke nach Güstrow gekommen - es war die Stadt, die dem Dorf Recknitz am nächsten lag -, und der Grund dieses Umzugs war, dem Sohn eine höhere Schulbildung zukommen zu lassen. Es wurde daraus aber insbesondere eine tief reichende Ausbildung zum DDR-Bürger. So, wie die Absolventen dieses unfreiwilligen Lernprogramms von der DDR sprachen, stellte Uwe Johnson 1970 in seinem "Versuch, eine Mentalität zu erklären" fest, "reden Kinder von ihren Eltern. So reden Erwachsene von jemand, der einst an ihnen Vaterstelle vertrat. Die DDR, 1949 als Erzieherin über sie gesetzt, hatte es leicht, die Zuständigkeit der alten Instanzen zu verkleinern (…) Der Fall war, dass hier mit der Vergangenheit gebrochen werden sollte. Die moralische Eindeutigkeit war verführerisch. Das saß. Es saß tief, es reichte für Vorschüsse, zu entrichten in Vertrauen" - in Johnsons Fall aber würde es schließlich reichen für die einschneidende Erfahrung mit einem Vertrauensbruch, mit dem vom Erwachsenen dann nachgerade manisch allüberall aufgespürten "Verrat".

Das wortgläubige Kind, dann der überzeugte junge Sozialist und verantwortungsvolle FDJ-Funktionär nämlich machte in den Güstrower Jahren auch unter den Bedingungen der "neuen Zeitordnung" Bekanntschaft mit dem zwischenmenschlichen wie eben auch politischen Phänomen, dass Worte nicht unbedingt mit den Tatsachen übereinstimmen, die sie beschreiben sollen und die für jedermann offen zutage liegen. Dieser Wortbruch wog für ihn schwerer als die zunächst noch kindlich staunende Beobachtung in Recknitz, dass die Erwachsenen in seiner Nähe auch dann noch an ihrem "Führer" festhalten wollten, als dessen "Reich" gerade vor den Augen aller elendig zugrunde ging - das Kind, als es dafür plädiert hatte, das Hitler-Bild abzunehmen, war gerügt worden, es konnte nichts ändern. Für die neu gegründete Republik aber hatte der Jugendliche sich gerade wegen deren programmatischen Bruchs mit der NS-Vergangenheit bewusst, selbständig und wahrscheinlich gegen das Votum seiner Mutter entschieden. Er machte jedoch Erfahrungen mit dieser Entscheidung, die für ihn nur den Schluss zuließen, dass diese neuen "Schwierigkeiten mit der Wahrheit" einer strategisch wie taktisch eingesetzten, jedenfalls absichtlichen Täuschung über die wirklichen Verhältnisse entsprangen. Uwe Johnson war gesonnen, die staatsseitig praktizierte Irreführung, den Wortbruch der Regierung gegenüber ihren Bürgern, persönlich zu nehmen.

"So bekam jemand seine ureigene Sache, seinen persönlichen Handel mit der Republik, seinen Streit mit der Welt darüber, wann etwas eine Wahrheit ist und bis wann eine Wahrheit eine Bestrafung verdient. Da ihm verwehrt ist, dies öffentlich auszutragen, wird er es schriftlich tun" - so wird der 46-Jährige im Jahr 1980 seine Konsequenz aus dem Aufwachsen in der DDR zusammenfassen. Nicht nur zum unerbittlichen moralischen Rigoristen, sondern zu nicht weniger als einem Schriftsteller hatte ihn dies Land demnach gemacht: zu einem, der seine literarische Sprache nutzen wollte, um die Verhältnisse richtigzustellen, um sie bei ihrem wahren Namen zu nennen. So wurde Johnsons Literatur nicht nur zur Beschwörung von früher Geschehenem, dann Aufgegebenem und Verlorenem - sie war gerade darin immer auch lebendige Gegenrede: gegen das falsche Zeugnis der Mächtigen. Hier, in Güstrow im Jahr 1946, hatte das alles angefangen.

An einem somerlichen Tag, an dem das Wetter noch zwischen einem allmählich herannahenden Gewitter und stechendem Sonnenschein schwankt, nimmt sich das seit der Wende in seiner Innenstadt sorgfältig restaurierte Städtchen behäbig und verschlafen aus. Touristen pilgern von der St. Marienkirche am Marktplatz vorüber am "Hotel Stadt Güstrow", das in den "Jahrestagen" dann zum "Hotel Erbgroßherzog" von Gneez wird: mit "einem Café unter zierlichen Stuckgirlanden, einem großmächtigen Tor zu den Gesellschaftssälen und einem mehr geduckten zu den Renaissance-Lichtspielen", die zu Johnsons Güstrower Zeiten "Capitol" hießen; die sowjetische Militäradministration hatte das Hotel, wie ebenfalls in den "Jahrestagen" nachzulesen ist, zu ihrem "Dom Offizerov", dem Haus für Offiziere gemacht.


Von hier aus weiter hinauf zum Renaissance-Schloss bewegen sich die Besucher. Hier bezog Wallenstein 1628 für zwei Jahre seinen Standort, hernach verfiel das prächtige Schloss mit Wallgraben, Hof und Brücke zunehmend: 150 Jahre lang diente es als Obdachlosen-Wohnstätte, wurde 1945 zum Sammellager für Flüchtlinge und war schließlich so herunterkommen, dass die sowjetische Kommandantur, deren herrschaftlicher Sitz es wohl hätte sein können, sich darin nicht mehr einrichten wollte.


In Johnsons Stadtbeschreibungen von Gneez in den "Jahrestagen" oder, im "Ingrid-Babendererde"-Roman, von Wendisch Burg, spielt das Schloss, ein vergessener Ort, folglich keine Rolle.

Das Gericht liegt am Platz davor, linkerhand ist die Stadtbibliothek in ein früheres Bürgerhaus eingezogen, und hier gibt es tatsächlich eine Uwe-Johnson-Ausstellung zu sehen.


Sie zu besuchen freilich ist ein bisschen mühselig. Vermutlich wissen die meisten der in der Stadt herumwandernden Gäste mit dem Namen des Autors ohnehin nicht mehr viel anzufangen, und wir können zwar ohne größere Mühe die Broschüre "Uwe Johnson. Die Güstrower Jahre (1948-1952)" erwerben,


doch dass wir auch die Ausstellung zu sehen wünschen, stößt auf Verwunderung. "Ach so? Na gut. Warten Sie mal", sagt die Dame hinter dem Tresen eher missmutig. Sie ruft eine Praktikantin herbei, die mit einem Schlüssel ausgestattet wird und uns im ersten Stock wortlos an einer anderen Ausstellung entlang vor jene Tür führt, hinter der die Johnson-Erinnerungsstücke warten. Auch das junge Mädchen scheint die ganze Aktion befremdlich zu finden, mit fühlbarer Ungeduld wird sie hernach am Eingang zu dem Raum verharren, dessen Wände mit großrahmigen, kommentierten Fotos aus den verschiedenen Lebensaltern Uwe Johnsons behängt sind: Bildern vom Riverside Drive in New York oder vom "Clock Tower" in Sheerness-on-Sea aus den 1990er-Jahren, aber auch von Klassenausflügen der Gymnasiasten der John-Brinckman-Oberschule aus den späten Vierziger-, frühen Fünfzigerjahren. Hier sehen wir Uwe Johnson mit Fahrrad und Zigarette abgebildet, dann wieder, wie er mit bedrohlich erhobenem Spaten auf eine eng gedrängte Gruppe von Mitschülern losgeht, oder man sieht ihn, eine hagere bebrillte Unglücksgestalt in zu großer Badehose, in die ein Oberhemd hineingestopft wurde, beim Holzhacken; die Bildlegende teilt mit, dass die Mädchen der Klasse den 18-Jährigen "Üwchen" zu nennen pflegten. Die meisten dieser frühen Fotos stammen von Johnsons Schulfreund Heinz Lehmbäcker, mit dem zusammen er hier auch im Jahr 1956 beim Besuch der Funkausstellung in Westberlin abgebildet ist. In heller Hose, Sandalen mit schwarzen Strümpfen darin, einem weißen Hemd, dessen Kragen nach FDJ-Art über das Revers seines Jacketts geschlagen ist, und modisch goldgeränderter Sonnenbrille unter einer Art Mecki-Haarschnitt studiert er mit dem Freund eine Illustrierte. Der Eindruck des Tollpatschigen hat sich beim Diplom-Germanisten Johnson, kurz vor der Flucht von Mutter und Schwester nach Westdeutschland und drei Jahre vor seinem eigenen Umzug in den Westteil Berlins, verloren.

Sehr zur Erleichterung der gelangweilten Praktikantin verlassen wir endlich den Raum und machen uns auf den Weg zu jener Schule, die in Johnsons "Reifeprüfungs"-Roman und in den "Jahrestagen" eine so zentrale Rolle spielt: 1948 war der 14-Jährige hier eingeschult worden. Die Mutter war nach dem Weggang von Recknitz bis zum Jahr 1950 mit ihrer kleinen Familie in Güstrow mehrfach von einem Übergangs-Quartier ins andere umgezogen, auch ihre Arbeitsstellen hatte sie in diesen Jahren mehrfach gewechselt: Zunächst Betreuerin in einem Heim für durch Krieg und Flucht elternlos gewordene Kinder, arbeitete sie sodann als Näherin in der Güstrower Kleiderfabrik, danach war sie Schaffnerin bei der Deutschen Reichsbahn geworden und stieg schließlich auf die weit weniger attraktive Tätigkeit einer Begleiterin von Güterzügen um. Dies einerseits, weil es in dieser Position mehr Geld zu verdienen gab, vor allem aber, weil dieser Schritt die Zulassung ihres Sohnes zum Gymnasium erleichterte. "Die Einladung zum neueren Leben, die Gebärde der weit geöffneten Arme, sie war zum Missverstehen gewesen. Sie hatte nicht allen Kindern gegolten", resümiert Johnson zwei Jahrzehnte später die frühe Einübung ins begründete Misstrauen. "Mancher Einzelne, der sich der neuen Gemeinschaft gerade als Individuum überantworten wollte, hatte nun zu erfahren, dass er gar nicht als Einzelner angesehen werde, sondern als Angehöriger einer Gruppe. Diese Gruppe aber waren die Eltern. (…) Die Ausnahme für den Freiwilligen wurde nicht gemacht, das gleiche Recht und die gleiche Geltung mussten in diesem Kindergarten gesondert verdient werden." Konkret hieß das für den Jungen: "Der Sohn eines Angestellten bei einem Tierzuchtamt der Hitlerregierung gilt als ‚bürgerlich‘, wie immer tot sein Vater sei. Die Menge der ‚bürgerlichen Elemente‘ auf den Universitäten soll beschnitten werden. Solange die Mutter Uniformen schneidert für die Stadtkommandantur der Roten Armee, wird sie bezeichnet als eine Angestellte, mithin ihr Sohn als bürgerlich. Auch wenn sie arbeitet als Schaffnerin auf Personenzügen der Deutschen Reichsbahn, bleibt sie eine Angestellte. Entschließt sie sich dazu, bei der Reichsbahn Güterwagen als Schaffnerin zu betreuen, ist ihr Sohn ein Arbeiterkind. Die Söhne und Töchter von Arbeitern und Bauern sind zu bevorzugen bei der Zulassung zum Studium." So auf dem Papier zum Arbeiterkind geworden, setzt Johnson seine Schullaufbahn auf dem Gymnasium fort. Und wird später erzählen, was einer, wenn er sich dem Schulhaus näherte, dort hörte und sah:

"Die Schulstraße lief längs des Domplatzes neben niedrigen hitzeharten Häusern, überbrückte den hier ziemlich breiten Stadtgraben und hielt am Wall an vor einem tüchtigen ordentlichen Gebäude mit drei Fensterreihen übereinander und zwei leeren Fahnenstangen vor einem großen Eingang. Der lange Streifen Sandsteins in dem endlosen tiefroten Gemäuer sagte, dies sei die Gustav-Adolf-Oberschule.


An der dem Domplatz zugekehrten Schmalseite des Hauses standen die Fenster offen. Aus dem ersten Stock redete eine unnachsichtige Stimme etwas offenbar Unzweifelhaftes."

Während wir jetzt vor der John-Brinckman-Oberschule stehen, im Rücken den Dom mit Ernst Barlachs "Schwebendem", dringt aus den Fenstern kein Laut: Es sind Sommerferien. Bewacht aber wird der Platz vor dem Gebäude von einer armlosen Statue mit gebeugten Schultern, die hier am 20. Juli 2007, Uwe Johnsons 73. Geburtstag, aufgestellt worden ist.


Sie stammt von dem Bildhauer Wieland Förster, wurde vom Güstrower Kunst- und Altertumsverein in Auftrag gegeben und zeigt einen Männerkopf mit zerfurchten Gesichtszügen, aus denen man eher auf einen von der Arbeit bei Wind und Wetter gezeichneten Bauern als auf den Schriftsteller Uwe Johnson schließen würde.


Der wiederum saß hier oben am Fenster, und was er in und außerhalb dieser Schule erlebte, war die Grundlage für seinen ersten Roman und wurde später in den "Jahrestagen" als Erfahrungsmaterial in einen viel weiter gespannten Rahmen eingebettet: Klassenkameraden, Lehrer, Versammlungen, die Verrücktheiten des paranoiden DDR-Systems, demzufolge die CIA Kartoffelkäfer über den Feldern abwarf, um dem sozialistischen Aufbau zu schaden; Johnsons Klasse hatte sie in Großeinsätzen von den Feldern zu sammeln. Nicht zuletzt aber kam auch sein eigenes Engagement für die FDJ zu Worte, wenn er sich in "Ingrid Babendererde" in der Figur des politisch aktiven Jürgen Petersen selbst porträtierte. Von seinen Klassenkameraden wurde Johnson - nach dem verschüchterten, mit eigentümlichen Eigenschaften und hochfliegenden Träumen behafteten Studenten in Gerhart Hauptmanns Drama "Die Ratten" - "Spitta" gerufen. Noch 1997 erinnerten sie sich seiner als eines in der Klassengemeinschaft gehemmten, im Unterricht überaus ehrgeizigen und sprachlich hochbegabten Schülers mit einer enervierenden Tendenz zur Rechthaberei, der seine Lehrer nicht selten zu längeren Disputen provozierte und zum Unterricht auch immer mal wieder im Blauhemd erschien. Ein "Bündel von Komplexen" nennen ihn die früheren Mitschüler, einen Sonderling, der es besonders bei den Mädchen schwer hatte. "Uwe war wirklich der Letzte", gibt eine zu Protokoll, "in den wir Mädchen aus der Klasse 9A2 uns damals verliebt hätten. Uwe war einfach tabu!"

Auf Fotos sehen wir einen bebrillten jungen Mann im Anzug oder langem dunklem Wintermantel, mit sorgfältig übereinandergelegtem weißem Schal oder offenem Hemdkragen und hellblond gelocktem, dichtem Haar ("Lockenvitz" wird später eine seiner Schüler-Figuren in den "Jahrestagen" heißen, ein weiteres Selbstbildnis) - groß, steif und schmal steht er da, kaum einmal lächelnd. "Für uns war er der eigenwillige, oft dickköpfige, hilfsbereite, ehrliche und etwas ungelenke Klassenkamerad", sagt Heinz Lehmbäcker, einer der Wenigen, die Johnson während der Schulzeit näher kamen. "Uwes Ironie war gefürchtet. Seine Liebe zur Musik blieb unerwidert. (…) Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass (er) mit sich und der Welt nie so recht zu Rande kam." Eine Außenseiter-Rolle, die allerdings, von den persönlichen Eigenheiten abgesehen, auch sachliche Gründe hatte. Wenn die übrigen Schulkameraden sich nachmittags in Güstrow am Pferdemarkt trafen, hatte der Schüler Johnson nämlich keine Zeit. Er trug für die Post Eilbriefe und Telegramme aus, um zum Arbeitslohn seiner Mutter etwas hinzuzuverdienen und für sich selbst ein Taschengeld zu erwirtschaften. An anderen Nachmittagen wieder belegte ihn die FDJ mit Beschlag. Er arbeitete in der "Zentralen Schulgruppenleitung" mit, nahm an einem Funktionärs-Lehrgang teilt, machte, wenn man so will, FDJ-Karriere. "Johnsons Herkunft war zwar bürgerlich, doch seine Haltung in der FDJ war überzeugt und absolut zielorientiert auf das System und den Wunsch, eines Tages Genosse zu werden", schreibt ein früherer Schulkollege. "In der FDJ waren zwar viele von uns, doch standen wir in jenen Jahren dem Machtapparat der SED kritisch, skeptisch und bestenfalls abwartend gegenüber. Das war auch nur verständlich, denn Schülerprozesse mit rein politischem Hintergrund hatten uns geprägt, hatten uns stark sensibilisiert."

Das einer, der sich in Güstrow nach 1950 noch ernsthaft für die Jugendorganisation ins Zeug legte, unter seinen Altersgenossen ins Abseits geriet, war kein Wunder - die Erfahrung, die sie alle mit dem politischen System gleich im Jahr nach der Staatsgründung der DDR gemacht hatten, war einprägsam genug gewesen: Am 27. September 1950 fand im heutigen "Hotel Stadt Güstrow" der erste Schauprozess gegen Schüler in der DDR statt. Angeklagt waren acht Heranwachsende von der John-Brinckman-Oberschule, die der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) angehörten. 1949 schon hatten sie, aufgefordert, "einen Leitspruch im Sinne der ‚demokratischen Erneuerung‘ an(zu)bringen", im Goethe-Jahr ein sprechendes Goethe-Zitat gewählt: "Welche Regierung die beste sei? Die, die uns lehrt, uns selbst zu regieren." Damit hatten sie die Aufmerksamkeit ihrer sozialistischen Obrigkeit auf sich gelenkt. Zum Prozess aber sollte eine andere Aktion führen: Zwei Monate vor den Volkskammerwahlen im November 1950 verteilte die kleine Gruppe Andersdenkender Flugblätter mit dem Slogan "Freiheit durch freie Wahlen in Ost und West".

Das hatte drastische Folgen, war jedoch kein Einzelfall. Schon im Jahr davor waren Rostocker Studenten, die ebenfals der LDP angehörten, zusammen mit jungen Mitgliedern des Schweriner Landesvorstands ihrer Partei verhaftet und vor einem sowjetischen Militärtribunal angeklagt worden. Einer von ihnen, ein erklärter Pazifist, erhielt "wegen Vorbereitung eines bewaffneten Aufstands" die Todesstrafe. Er wurde in der Sowjetunion hingerichtet, die anderen erhielten lange Haftstrafen. Nun statuierte das Regime ein Exempel auch unter den Schülern - es war der erste politische Prozess, den die DDR-Justiz in Eigenregie durchführte. Dies Verfahren, zu dem sowohl Betriebsangehörige als auch Schüler als Zuschauer in den Saal geschafft worden waren, drohte zu entgleisen, als einer der jungen Männer als seine persönliche Motivation für die Flugblattaktion angab, sein Vater sei im sowjetischen Internierungslager "Fünf Eichen" - in dem später in den "Jahrestagen" auch Heinrich Cresspahl gequält werden wird - zu Tode gekommen; von diesen Lagern durfte in der Öffentlichkeit nicht gesprochen werden. "Verbrechen gegen den Frieden, Vorbereitung eines Krieges, Verletzung von internationalen Verträgen und Bekundung von Völker- und Rassenhass waren die Verbrechen, die wir (laut Gericht, F. M. -G.) begangen hatten", berichtet einer der damaligen Angeklagten. Das Gericht befand am 27. September 1950 auf Strafen von bis zu 20 Jahren Zuchthaus für die jungen Leute, und nur einen Tag später wurde in der John-Brinckman-Oberschule auf Geheiß des Direktors eine Veranstaltung zu diesem Prozess abgehalten, an der auf jeden Fall auch Uwe Johnson teilgenommen haben muss. Zwei 10. Klassen und eine 12. protestierten bei dieser Gelegenheit geschlossen gegen die Urteile, die seine kann es nicht gewesen sein. Die Folgen waren verheerend: "Für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die hier Bekennermut gezeigt hatten", schließt der damalige Mitangeklagte Peter Möller seinen Bericht, "waren die Weichen für die Zukunft in Richtung Sackgasse gestellt."

In seinem Roman "Ingrid Babendererde" kommt Uwe Johnson auf diesen Prozess nicht zurück. Er setzt an dessen Stelle vielmehr eine Verhandlung über Mitglieder der "Jungen Gemeinde", wie er sie selbst erst im Mai 1953 als Student in Rostock erlebte. Seine Weigerung dort, Kommilitonen zu denunzieren, sollte ihm die - später dann wieder zurückgenommene - Relegation vom Studium eintragen. Im "Babendererde"-Roman geht es bei der von der FDJ anberaumten Schul-Vollversammlung in der Aula der "Gustav-Adolf-Oberschule" dennoch nicht anders als im realen Güstrower LDP-Prozess ebenfalls um Landesverrat: um die sogenannte "Boykotthetze" sowie um "von den Amerikanern" in Auftrag gegebene "Sabotage und Spionage", die angeblich von der kleinen Gruppe der evangelischen "Jungen Gemeinde" ausgeführt worden seien; überdies steht der Vorwurf einer nächtlichen Messerattacke gegen einen FDJ-Funktionär zur Verhandlung. Ziel dieser fiktiven Schulversammlung ist es, die Mitglieder der "Jungen Gemeinde" durch öffentlichen Druck zu zwingen, ihre Zugehörigkeit zur kirchlichen Jugendgruppe aufzukündigen und sich künftig widerspruchslos dem FDJ-Diktat zu unterwerfen. Für den Nachmittag dieses Tages ist die Titelheldin des Romans aufgefordert, "dreißig Minuten (zu) reden über Die Junge Gemeinde und Die Rechte der Kirche". Ingrid Babendererde steht wie ihre Mitschüler kurz vor dem Abitur, und es ist klar, dass bei Zuwiderhandlung ihr weiterer Lebensweg in der DDR bedroht sein wird. Wir Leser aber lernen bei dieser Gelegenheit ein erstes literarisches Meisterstück des gerade zwanzigjährigen Autors Uwe Johnson kennen: Ingrids "Rede über die Hosen von Eva Mau" - eine Lehrstunde darin, wie sich ohne explizites äußeres Oppositionsgebahren eine politische Stellungnahme gewissermaßen in der indirekten Redeweise der Ironie abgeben lässt. Allerdings zeigt sich auch, wie lebensverändernde Konsequenzen selbst aus einer solchen mit Charme und Witz vorgetragenen Aktion folgen.

Über die "Junge Gemeinde" nämlich, sagt Ingrid, könne sie mangels näherer Kenntnis dieser Organisation niht sprechen. "Wenn ich aber nun durchaus was sagen soll", fährt sie fort: "Ich will denn wohl reden über die Hosen, mit denen Eva Mau im Januar nach den Ferien in die Schule gekommen ist. 12 A. Wir fanden die Hosen alle sehr schön." Und nun folgt ein rhetorisch raffinierter Kleidungs-Exkurs, gipfelnd in der nachgerade physischen Notwendigkeit von Meinungsfreiheit und Toleranz: "Wir können ja wohl nicht alle Herrn (Direktor, F. M.-G.) Siebmanns Anzug tragen, wir mögen uns auch nicht alle so benehmen wie er.", sagt Ingrid Babendererde. Ihre Konsequenz: "Ich bin also dafür, dass Eva Mau ihre Hosen tragen dürfen soll (…) Und ich bin also auch daür, dass Peter Beetz sein Abzeichen tragen darf: wenn es auch ein Kreuz auf einer Kugel ist." Nach lange lastendem Schweigen im Saal antwortet ihr schließlich ohrenbetäubender Applaus, "unter ihr der Fußboden bebte gefährlich von dem unaufhörlichen Trampeln". Und doch - oder eher eben deshalb - wird Ingrid der Schule verwiesen und verlässt am nächsten Morgen zusammen mit ihrem Klassenkameraden und Freund Klaus Niebuhr die Deutsche Demokratische Republik. Wie später ihr Autor werden sie in Westberlin "umsteigen in jene Lebensweise, die sie ansehen für die falsche. (…) Das letzte Bild ist das der Wellen, die sie im Uferschilf hinterlassen, da waren sie eben noch, nun sind sie gegangen."

So unverhohlen geradeheraus, furchtlos und konsequent hätte Uwe Johnson sich auch seine eigene Rolle in der Oberstufe seines Güstrower Gymnasiums retrospektiv wohl gern vorgestellt - und nur am Rande fällt auf, dass die widerständige Person, die in offenem Widerspruch nicht klein beigibt und die Folgen ihres Handelns ohne Zögern trägt, in seinem literarischen Werk immer weiblich besetzt ist: hier mit Ingrid Babendererde, später auch mit der Schauspielerin Karin im Roman "Das dritte Buch über Achim", mit "der roten Anita" in den "Jahrestagen" und, natürlich, mit Gesine Cresspahl. De facto aber sah es für den Schüler noch länger ganz anders aus, und dies vertiefte, zumal nach dem Güstrower Schüler-Prozess, seine Isolation unter den Altersgenossen. Was jedoch nicht heißen muss, dass er nicht bereits in Zweifel über die Richtigkeit der von der KPdSU des Genossen Stalin vorgeschriebenen Linie der DDR-Politik geraten wäre. "Vor wem ist der Ekel größer", wird sich der Schriftsteller im Jahr 1980, zurückblickend auf die DDR der Fünfzigerjahre, fragen - "vor dem, der die Feigheit leistet, oder vor denen, die sie verlangen? (…) Es gibt Lehrer, die benutzen noch für die Drohung mit einer Eintragung ins Klassenbuch die Sprechmelodie des Genossen Stalin (…). Andere Lehrer wissen, dass der Schüler lügt beim Aufsagen von Lügen, die er von Niemandem weiß als von ihnen selber, und eine Eins schreiben sie ihm an, und der Schüler sieht ihnen zu dabei". Aber noch - dieser junge Mann ist von der bedächtigen Art und neigt weder zu überstürzten noch zu spektakulären Handlungen - ist es für ihn nicht so weit, Konsequenzen zu ziehen (und wenn er dann, in Verfolgung seines Wegs als Schriftsteller, endlich gar nicht mehr anders kann, als das Land zu verlassen, das ihn selbst nach dem Ende seines Studiums schon an den gesellschaftlichen Rand: in die Situation eines Arbeitslosen gebracht hat, wird er für sein restliches Leben um das bewusst und zu recht Verlassene trauern, wird ihm hinterher schreiben, wird dessen Bild wieder und wieder nachzeichnen). Im Alter von 17 Jahren aber ist er noch vollauf damit beschäftigt, sich das "Grundwissen" für das sogenannte neue Leben zu verschaffen. Und je mehr er davon erwirbt, umso höher klettert er auf der FDJ-Karriereleiter.

"Das Grundwissen reichte aus", bilanziert Johnson später, "zu dem F.D.J.-Abzeichen ‚Für Gutes Wissen‘ in Bronze. Das Abzeichen reicht aus für die Bestellung zum Org.-Leiter der Z.S.G.L.. Das eine ist die Zentrale Schulgruppenleitung einer Oberschule, und der andere befasst sich mit der Organisation der Unternehmen, denen sich an die dreihundert Schüler gemeinsam unterziehen, als da sein kann die Suche nach Kartoffelkäfern, die Flugzeuge der U.S.A. auf Beschluss der D.D.R. seit dem Frühjahr 1950 auch über Mecklenburg abgeworfen haben. Ernte-Einsätze, Entlade-Einsätze. (…)  An den Org.-Leiter kommt die Anfrage der Kreisleitung über das ‚politische Bewusstsein‘ eines Mitschülers, die verkleidete Neugier des Ministeriums für den Dienst an der Staatssicherheit, und ehe er darüber befindet mit den Angehörigen der Z.S.G.L., wird er jenen Mitschüler unterrichten über das gefährliche Interesse an seiner Person. (Der zieht es vor, die Warnung in den Wind zu schlagen, und bekommt seinen Prozess, während der Org.-Leiter eben abzuwarten hat, ob der als Staatsfeind erkannte Doemlack ihn benennen wird als Beihelfer zu seinen Albernheiten.) Wenn Angehörige seiner Schulgruppe verschwunden sind, nämlich verhaftet, geht der Org.-Leiter auf die Suche nach ihnen in den sicheren Häusern des Volkseigenen Betriebes Horch & Greif, wo er sagt: immerhin bin ich der Org.-Leiter - womit sich also die Frage seiner späteren Leser danach erübrigt, woher denn der Schriftsteller Johnson die Stasi-Herren vom Schlage eines "Herrn Rohlfs" oder "Mesewinkel" oder "Fabian" wohl so genau gekannt haben mochte, dass er sie in seinen Romanen immer wieder in differenzierter Charakterzeichnung herbeizitieren konnte. "Dies alles", schließt er seine Retrospektive ab, "neben der Schularbeit, durchaus ehrenamtlich, durchaus unehrenhaft in der Sicht mancher Mitschüler."

Immerhin lässt der Zwölftklässler sich für sein letztes Schuljahr von der FDJ-Arbeit beurlauben, die Begründung: Er, der leistungsstarke und eifrige Schüler, müsse sich härter als andere auf die Abiturprüfungen vorbereiten, um am Ende für einen Studienplatz in einem Fach seiner Wahl infrage zu kommen. Hatte er im Dezember 1950 noch an einem "Bezirksleiterlehrgang der Bezirksjugendschule der FDJ" teilgenommen und sich damit für höhere Aufgaben qualifiziert, verlegte er sich nun auf eine ganz andere "gesellschaftliche Tätigkeit". Diesmal zum staunenden Vergnügen seiner Mitschüler.

1951 war an der John-Brinckman-Oberschule eine "Kulturgruppe" ins Leben gerufen worden, "mit Chor, Volkstanzgruppe und Laienspielzirkel". Uwe Johnson, außer als FDJ-Funktionär auch noch Mitglied des "Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" sowie der "Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft", schloss sich diesem Chor an - nicht als Sänger allerdings, sondern als Conférencier. Trat der Chor auf einer seiner "Bäderreisen" an der Ostseeküste vor Badegästen auf, war er es, der die Zuhörer mit launigen Reden durch den Abend führte, und zwar vorzugsweise in gereimter Form. Verse waren das wie "Ein Jüngling verliebte sich./In eine Jungfrau vom Sopran./Die Jungfrau arg verfärbte sich,/als sie dies vernahm." Angesichts der staatlich verordneten Feindschaft gegenüber den Hervorbringungen des "amerikanischen Imperialismus" hingegen mutmaßlich für den privaten Gebrauch bestimmt gewesen sein dürfte sein ebenfalls überliefertes "Glaubensbekenntnis": "Ja, der Boogie-Woogie, Blues,/‚Opus Two‘ und die Choo-Choos,/kurz gesagt, der ganze Hot,/sind für uns beinahe Gott.// (…) Drum wir üben in Geduld/unsern Jazzanbetungskult (dschäs)/mit der heil’gen Litanei:(wuwu-/rabbadibaibom-/bubai!!//(dadaaa…)"

"Dass ‚Üwchen‘ (…) auch Reime klopfen konnte", hatten wir in dem Kommentar Heinz Lehmbäckers zu einem der Klassenfotos in der Güstrower Ausstellung gelesen, "ahnte damals niemand von uns." Nun, da das absonderliche "Üwchen" mit seinem Spezial-Talent an die Öffentlichkeit getreten und sogar in der Zeitung gewürdigt worden war - "In humorigen Zwischentexten versucht sich glückhaft ein junger Güstrower Poet" -, erwarb er sich den Respekt nicht nur der "Mädels", sondern eines größeren, fremden Publikums. Ein Erfolgserlebnis, das er sogar in seiner Zeit als Rostocker Germanistik-Student noch öfter wiederholte, wenn er weiterhin mit dem Schulchor auf Reisen ging. Ein Foto von 1952 zeigt den Conférencier im schwarzen Anzug, mit straff zurückgekämmtem Lockenhaar - endlich einmal lächelnd.

Damit war es nun also heraus: "Dies Kind las" nicht nur, was ihm in die Hände kam. Der Junge schrieb auch. Der Freund Lehmbäcker dürfte einer der Ersten gewesen sein, die davon erfuhren, dass Johnson an einem längeren Prosatext arbeitete - natürlich erfuhr er es unter Johnson-gemäßen, also höchst klandestinen Umständen. Es war ein Sonntag, als der ihn zur Güstrower Leihbibliothek schleppte, ihn veranlasste, durch ein befremdlicherweise nur angelehntes Fenster einzusteigen und ihm in einen Nebenraum zu folgen. "Nun wird mir freundlichst von meinem ‚Hausherrn‘ anempfohlen", erinnert sich der damalige Zuhörer, "doch bitte in einem dieser ‚vorzüglichen‘ Sessel Platz zu nehmen. Da zieht Uwe einen Stapel Papier hervor und beginnt fast emotionslos eine Geschichte vorzulesen. Von Schülern, wie wir es waren. Mit unseren Hoffnungen und Zweifeln, unseren Sehnsüchten. Ich bin platt. An sehr viel Wind und Wasser und Segel und Sonne kann ich mich erinnern. Meine Neugier weicht Ehrfurcht und Verzauberung. Eine ziemlich lange Geschichte. Wundersame Stunde. Und plötzlich wurde mir bewusst: Du sitzt hier vor einem angehenden Schriftsteller und bist vielleicht sein erster Zuhörer. Die tiefe warme Stimme erzählt die Geschichte einer Abiturklasse. Erst viel später werde ich erfahren, dass es sich um eine erste Fassung seines Ingrid-Babendererde-Romans gehandelt haben muss."

Da hatte also einer, dem seine eigenen Wirklichkeits-Erfahrungen zunehmende Zweifel an der Richtigkeit der staatlichen Erklärung der Welt beigebracht hatten, einer, der zudem im persönlichen Umgang nicht nur extrem verschüchtert, sondern aufgrund seiner "Wortgewalt und (seines) Genauigkeitsdrang(s)" andererseits auch "ziemlich anstrengend" wirkte, doch noch seinen ganz eigenen Weg gefunden, zu seiner Mitwelt Kontakt aufzunehmen. "Viel Wind und Wasser und Segel und Sonne" - die später im Urteil Peter Suhrkamps und Siegfried Unselds namentlich zur Ablehnung dieses Roman-Erstlings führen würden - gerieten in diese frühe Schülergeschichte natürlich nicht von ungefähr. Obwohl Johnson sich "von einem approbierten Arzt eine ‚vegetative Dystonie‘ bescheinigen ließ, sobald die amtliche Rede war von freiwilliger Verpflichtung in eine der Waffengattungen der Kasernierten Volkspolizei, und dadurch obendrein eine Freistellung vom Unterricht im Sport sich erschlich", verbrachte er dennoch so viel Zeit wie möglich mit sportlichen Aktivitäten: beim Schwimmen, Paddeln und Segeln. Überdies legte er mit seinem für fünf Mark von einem Mitschüler gebraucht gekauften Fahrrad beträchtliche Strecken nicht nur als Briefzusteller zurück, sondern auch, um am Wochenende Schulkameraden in ihren Heimatorten zu treffen. Nachdem er in seinem zweiten Studienjahr schließlich auch noch ein hölzernes Paddelboot erstanden hatte, schrieb er am 10. Juni 1952 gewohnt verklausuliert an "Henry" Lehmbäcker: "Ich besitze ein Paddelboot. Da siehst du mal wieder meine Unvernunft. Übermorgen habe ich es sogar bezahlt. Ich pflege nun jedes weekend zu paddeln. Du könntest ja mitkommen; es muss nicht sein. Wir können auch auf dem Sofa sitzen bleiben, ist sowieso da weicher.

Wenn aber: dann möglichst den ganzen Sonnabend oder (und) den ganzen Sonntag. Treffpunkt acht Uhr morgens am ‚Fährhaus‘ (Gaststätte am Ende der Plauer Chaussee, rechts.) Sonntag, 28. VI. fällt ab 12 h aus. Verbleiben noch 13. VI., 20. VI., 21. VI., 27. VI.. Alles in diesem Jahr.

Trainingsanzug oder ähnliches und Badezeug mitbringen. Für letzteres ist kein Ersatz (…) gestattet, im Interesse einer Sittlichkeit. U. J."

So paddelten die beiden denn vom Fährhaus über den Teuchelbach zum Inselsee, und als sie auf dem Rückweg in einen Sturm geraten, wird die Sache im heftig bewegten Wasser tatsächlich ein bisschen bedrohlich.


Ein Motorbootfahrer bietet an, sie nach Hause zu schleppen - doch "Jugendfreund" Uwe lehnt die Hilfe ab: "Sofort wirfst du die Leine wieder zurück", herrscht er Henry an. "Das kurze Stück bis zum Bach werden wir doch wohl alleine schaffen! Kurzes Stück ist gut, knurrte ich", kommentiert Lehmbäcker. "Beugte mich aber zähneknirschend dem Befehl meines Steuermanns. Uwe war schwer zu bewegen, eine ausgestreckte Hand zu ergreifen. Und das nicht nur ‚auf hoher See‘. (…) Was er sich einmal vorgenommen hatte, das musste sein. Auf Biegen oder Brechen."

Auch wir verlassen nun das in seinem sommerlichen Dösen gleichsam zeitlos daliegende Güstrow, um am Ende unserer ersten Johnson-Etappe noch diejenigen Orte aufzusuchen, die in dessen literarischen Landschaften so markant hervorgehoben sind: den Inselsee und den Heidberg, mitsamt einem kleinen Abstecher zum Atelier Ernst Barlachs, das dort am Ufer liegt.



Hierher ist der Schriftsteller vom Westen aus seit den frühen Siebzigerjahren zurückgekehrt, so oft es angesichts der strikten Visums-Regelungen möglich war, besuchte Freunde aus der Schulzeit, ist mit Frau und Tochter im See geschwommen. 1982 noch reiste er als Teilnehmer einer britischen Reisegruppe als - ausschließlich englisch sprechender - "Mr. Johnson" ein und berichtete Heinz Lehmbäcker hinterher: "Was habe ich mich verfiert in Güstrow! Plötzlich ist der Himmel über der Langen Stege zugehängt von einer schwebenden Autostrasse, ein Stück von der Prahmstrasse (jetzt Autobus-Haltestelle) fehlt! Das Barlach-Haus stand voller verlegener Jung-Armisten


und war erfüllt von den Erklärungen einer piepsigen Oberschülerin: Mit dieser Linie der Figur hat der  Künstler ein Leiden ausdrücken wollen … Sonst war der Tannenkrug geschlossen, die Grenzburg hatte einen von ihren zwei wöchentlichen ‚Schließtagen‘.

Johnson hatte, obzwar seit seinem Herzinfarkt in bedenklicher gesundheitlicher Verfassung, die ganze Strecke bis zu den Heidbergen über dem Inselsee in einem Gewaltmarsch von Güstrow aus zu Fuß zurückgelegt - und hatte dann keinen Ort gefunden, an dem er hätte einkehren und für den Rückweg neue Kraft schöpfen können: "Auf Biegen und Brechen" musste es auch noch für den Erwachsenen gehen. Ermattet schleppte er sich den langen Weg wieder zurück. Wir haben es da, mehr als zwanzig Jahre nach der Wende und mit einem Auto versehen, günstiger getroffen. Die Straße von Güstrow führt, hügelan, hügelab, durch dichten Wald, rechterhand, lange unsichtbar bleibend, erstreckt sich der Inselsee, nach links zweigt irgendwann die Landstraße zum Dorf Recknitz ab. Wir aber fahren weiter geradeaus und treffen direkt am See auf ein altes Hotel mit wechselvoller, über hundertjähriger Geschichte, seit einigen Jahren ist es aufs Eleganteste wieder hergerichtet - und der junge Besitzer, desen Familie das Hotel auch zu DDR-Zeiten gehört hatte, hat den Schriftsteller Johnson einst als Schüler bei einer Lesung in der Deutschen Schule in London kennengelernt. Im Augenblick aber bereitet er gerade ein Gartenfest mit Karussells und Buden auf dem weitläufigen Areal vor und hat wenig Zeit: Wieder hängt drohend ein Gewitter in der  Luft, es wird Regen geben, und wir fragen nur noch rasch nach dem Weg zur Rodelbahn in den Heidbergen, die uns aus einer bewegenden Szene in den "Jahrestagen" unvergesslich ist.


Gegenüber dem Atelier von Ernst Barlach also geht es rasch ziemlich steil in den Wald hinauf, in dem sich auch das Ausflugslokal "Grenzburg" verbirgt, das Johnson bei seinem letzten Besuch geschlossen angetroffen hatte.


Auf drei geschnitzten, in Fraktur beschrifteten Holzschildern übereinander ist zu lesen: "Kiek mal in", "Grenzburg", "500 Meter" - sie hat auch an diesem Tag nicht geöffnet.


In zunehmender Schwüle, dann bei einsetzendem Nieselregen und umschwirrt von Myriaden von Mücken suchen wir nach jenem Ausblick, von dem es fast am Ende der "Jahrestage" heißt: "… auf dem Kamm des Heidberges, wo ein Abhang sich öffnet, güstrower Kindern wohlbekannt als Schlittenbahn, auch dem Auge freien Weg öffnend über die Insel im See und das hinter dem Wasser sanft ansteigende Land, besetzt mit sparsamen Kulissen aus Bäumen und Dächern, leuchtend, da die Sonne gerade düstere Regenwolken hat verdrängen können: welch Anblick mir möge gegenwärtig sein in der Stunde meines

Es ist uns schnuppe, ob dir das zu deftig beladen ist, Genosse Schriftsteller! Du schreibst das hin! Wir können auch heute noch aufhören mit deinem Buch. Dir sollte erfindlich sein, wie wir uns etwas vorgenommen haben für den Tod.

Sterbens."

Tatsächlich zeigt sich jenseits der Kiefern und hoch aufragender Laubbäume weit unten ein schmales Fleckchen Helligkeit: Das ist der See, schimmernd selbst unter zugezogenem Himmel. Hinter den reetgedeckten Bootshäuschen am Uferrand läuft die Landschaft aus in Baumgruppen und mattgelbe Felder, am Horizont fast im Dunst verschwunden sind mehrstöckige Neubauten, blickt man von dort weiter nach rechts hinüber, erhebt sich ein dicker kantiger Kirchturm, dort liegen die bebauten Ränder der Stadt Güstrow. "Die Wahrheit zu sagen", hatte Johnson Anfang der Achtzigerjahre an seinen Schulfreund Heinz Lehmbäcker geschrieben; "war ich ja auch bloß gekommen wegen des Ausblicks vom Kamm des  Heidbergs (…), auch dem Auge freien Weg öffnend über die Insel im See und das hinter dem Wasser sanft ansteigende Land, besetzt mit sparsamen Kulissen aus Bäumen und Dächern" - und hatte sich bei "Henry" "eine fotografische Ablichtung davon" erbeten, "grade wenn die Sonne düstere Wolken zur Seite drängt". In wörtlicher Übereinstimmung mit dem "Jahrestage"-Text ist dann in dem Brief die Rede davon, dass Johnson selbst "dieses Bildes gewärtig zu sein hoffe in der Stunde [s]eines Abscheidens", und so ist doppelt bekräftigt, dass der ein frühes Glücksempfinden noch einmal wiederholende Blick ins Panorama der Kindheitslandschaft, wo diese von menschlichen Machenschaften noch ungestört erscheint, für den noch nicht Fünfzigjährigen inzwischen aufs Engste verknüpft ist mit dem Gedanken ans eigene Ende. Der Blick in Uwe Johnsons Kinderreich ist nun mit dem Tod infiziert.

Ein Wegweiser hier oben auf bröckelndem, bemoostem Holz weist links nach "West", rechts nach "Ost", darunter auf  einem Extra-Schild zum "Inselsee" und dann, noch einmal rechtwinklig dazu, zum "Elisabethstein" - ein Name, der an Johnsons Ehefrau erinnert. Der Weg zum See wieder hinab führt uns umweglos in das einstige Atelier von Ernst Barlach, über dessen Romanfragment "Der gestohlene Mond" der Student Johnson 1956 in Leipzig seine Diplomarbeit geschrieben hatte. In den "Jahrestagen" wiederum schickt Heinrich Cresspahl seine Tochter Gesine im Dezember 1951 in einem "sonntäglichen Kostüm" zur schulischen "Betriebsbesichtigung Barlach". Den Künstler, heißt es im Roman, "hatten die Mecklenburger (…) so getriezt und gequält, er starb in Rostock 1938, begraben werden wollte er in Ratzeburg. Hier, vor den schwebenden Engel im güstrower Dom, vor die Figur des Zweiflers, die junge Frau im schlimmen Jahr 1937, traten wir ein zweites Mal", berichten Gesine Cresspahl und ihr "Genosse Schriftsteller", "wenn (die Lehrerin) durch war mit ihrem ausdeutenden Sums; um sie schweigend ansehen zu können. (…) Barlachs Orientierung auf eine verfaulende Gesellschaftsschicht hat ihm den Zugang zu dem großen progressiven Strom des deutschen Volkes verschlossen", haben Gesine und ihre Mitschüler auf der Oberschule gelernt und erlebten dann selbst, wie die herrschende sozialistische Partei den Künstler zum "Formalisten" erklärte, der sich vom Volk "isoliert" habe: Dies sei "das ganze Geheimnis seiner selbstgewählten Vereinsamung". Hätte er selbst in dieser ideologisch zubetonierten Welt und ihrem Verdammungs-Enthusiasmus ausgeharrt, es wäre gleichlautend gewiss auch das Verdikt über den Schriftsteller Johnson gewesen; in der DDR durften seine Bücher bis zum Schluss nicht gelesen werden.

Es geschieht nach dem Besuch in Barlachs Werkstatt, bei dem sie sich dem törichten Gerede ihrer Lehrerin entziehen, dass Gesine Cresspahl und ihre Freundin, die "rote" Anita, oben auf dem Heidberg "eine Heimlichkeit miteinander" haben. Sie schließen ein Bündnis: "Wir vertrauten einander etwas an über die Unentbehrlichkeit der Landschaft, in der die Kinder aufwachsen und das Leben erlernen. (…) Für den Rest des Schuljahres galten wir weiterhin als zwei, da bleibt die eine der anderen fremd; freund waren wir."

Ein solches Bündnis verbindet zugleich auch den Schriftsteller Uwe Johnson mit seiner Protagonistin. In einer mehrfachen Spiegelung auf den Glastüren der New Yorker Bank, in der sie Ende der Sechzigerjahre arbeitet, lässt er Gesine unverhofft erkennen, was auch ihm selbst in der Riesenstadt auf dem anderen Kontinent immer vor Augen stand: "Ein Bild aus Schatten, stillen und losen, oben von einhängendem Dunkel eingefasst wie von Baumkronen, und zwischen den gleitenden Abbildern (…) ist der Hintergrund tief geworden, weißliches Seelicht gesehen unter Laubgrün, Boote auf dem Wasser, vor mir unverlierbar gewusste Umrisse (…). So der dick bedeckte Tag aus Dunst über dem jenseitigen Flussufer, über den austrocknenden Laubfarben vor dem verwischten Wasser, verspricht (…) das Segelwetter zum Morgen vor vierzehn Jahren, erzeugt Verlangen nach einem Tag, der so nicht war, fertigt mir eine Vergangenheit, die ich nicht gelebt habe, macht mich zu einem falschen Menschen, der von sich getrennt ist durch die Tricks der Erinnerung."

Tricks der Erinnerung? Dieses Bild ist dasselbe, das wir, vom Heidberg aus, noch eben mit eigenen Augen gesehen haben, mehr als vierzig Jahre, nachdem es beschrieben wurde: in unserer Gegenwart.

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